
Nicht nur Profis, auch Breitensportler kennen das: Sitzprobleme bei längeren Radtouren. Druckstellen und Taubheitsgefühle am Gesäß plagen die Athleten, vor allem Radsportlerinnen haben oft riesige Probleme. Spezielle Frauensättel können helfen. Man kann aber auch noch mehr tun.
Die Auswahl des Radsattels ist eine Wissenschaft für sich
Irgendwann ging es nicht mehr. Karla Sommer musste eine Radpause einlegen. Sie konnte nicht mehr auf ihrem Sattel sitzen. Die Schmerzen bei der einstigen Junioren-Nationalfahrerin waren einfach zu groß geworden. „Ich hatte als junge Frau eigentlich kaum Sitzprobleme. Nach der Geburt meines Kindes hatte sich aber offenbar die Form meines Beckens verändert. Ich bekam Sitzprobleme auf dem Rad, die immer schlimmer wurden“, klagt die 42-Jährige.
„Ein klassisches Problem für Frauen“, erklärt Kim Tofaute. Der 54Jährige gilt als so etwas wie der „Sattel-Guru“ in Deutschland schlechthin. Der Ergonomie-Experte befasst sich seit über 20 Jahren mit Studien über ergonomisches Radfahren und ist überzeugt: „Der Sattel ist das Zentrum jeden Fahrrads. Und Sitzprobleme sind die am häufigsten auftretenden Probleme beim Radfahren. Egal, ob im Profi- oder Hobbybereich.“
Der Radsattel – die Schnittstelle zwischen Mensch und Material
Der Sattel ist die Schnittstelle zwischen Mensch und Material. Er ist zugleich das Bauteil des Rades, dessen Individualität am wichtigsten ist. Im besten Fall spürt man ihn kaum. In schlechteren Fällen verursacht ein falscher Sattel Druckstellen, Taubheitsgefühle und Schmerzen.

Tofaute, der zahlreiche Studien zum Thema an der Deutschen Sporthochschule Köln durchführte, forschte zu Radsätteln allgemein, wurde aber bald zum Experten für Frauensättel. Er erklärt: „Vor der Jahrtausendwende war die aktive Radszene fast ausschließlich eine Männer-Domäne. Aber mit den Jahren wurde der Frauen-Einfluss immer stärker und es wurde klar: Frauen brauchen andere Sättel als Männer. Aber die gab es eben noch gar nicht. Also haben wir angefangen zu forschen und zu entwickeln.“
Die einzige Pionierin in diesem Geschäft war bis dahin die US-Amerikanerin Georgena Terry. Die in den 80ern aktive Profifahrerin hatte Sitzprobleme und begann, in Handarbeit das ein oder andere Sattelmodell ihren Bedürfnissen entsprechend mit einer Aussparung in der Sattelmitte zu entwickeln. Sie ließ es sich patentieren, es dauerte allerdings bis Mitte der 90er Jahre, bis Sättel für den us-amerikanischen Markt in Serie produziert wurden.
Die Arnold-Brüder als Schwungräder
In Deutschland waren zu jener Zeit Tofaute und seine Leute aus Köln auf das Thema aufmerksam geworden – und sie trafen auf interessierte Geschäftsleute aus Koblenz. Die Brüder Roman und Frank Arnold bauten gerade einen radsportspezifischen Großhandel auf und sicherten sich die Distributionsrechte für Terry-Sättel auf dem deutschen Markt. Die Arnold-Brüder und Tofaute kamen zusammen und begannen mit der Weiterentwicklung der Sättel.
Die Sache wurde professionalisiert und voneinander getrennt. Während Roman Arnold mit der Marke Canyon einen Online-Direktvertrieb für Räder aufbaute, blieb Frank mit seiner Firma RTI-Sports, die mit Ergon- und Terry-Sätteln ins Metier einstiegen, bei dem Thema Ergonomie: Sättel, Griffe und Pedalen wurden mit Hilfe seines Chef-Entwicklers Tofaute sein Metier. Und es kam die Sportstudentin Janina Haas dazu, die in ihrer Master-Arbeit der Frage nachging: „Brauchen Frauen andere Sättel als Männer?“

Haas ging die ganze Sache enorm analytisch an: Sie wertete eine Fülle von Röntgenbildern von Frauen-Becken aus, analysierte und interpretierte Becken-Geometrien und –Maße, die vorher nur für Geburtsthematiken relevant waren. Zudem nahm sie Erfahrungsberichte von Hunderten von Radfahrerinnen in ihre Untersuchungen auf. „Das Resultat war klar: Frauen brauchen andere Sättel als Männer“, sagt sie.
Die Entwicklung des Sattel-Prototyps für Frauen
Für sie liegen die Dinge auf der Hand: „Die Schambein-Geometrie ist eine andere und während bei Männern Druck auf dem Damm entsteht, leiden Frauen schnell unter Quetschungen im Genitalbereich zwischen Sattel und Sitzknochen.“
Gemeinsam mit dem Frauen-Profiteam Canyon/SRAM wurde 2015 ein erster Frauensattel-Prototyp entwickelt. Zum Einsatz kam unter anderem ein für Radsättel adaptiertes Mess-System aus dem Pferdesport, das zuvor Drucktestmessungen an Pferdesätteln vornahm.
Heute gibt es mindestens ein Dutzend allein von RTI-Sports entwickelte unterschiedliche Ergeon- und Terry-Frauensättel, deren auffälligstes Merkmal die Aussparung und Entlastungsbereiche im Sattel-Zentrum sind. Die weitere Form der Sättel orientiert sich an der speziellen Schambein-Anatomie von Frauen und der Geometrie der Sitzknochenbreite, die bei jedem Menschen unterschiedlich ist.

Eine interessante Entwicklung kommt aus den USA hinzu, wo die Firma „BiSaddle“ flexibel verstellbare Sättel entwickelt hat. Der Sattel wird hier aus zwei beweglichen Seitenschenkeln zusammengebaut und ist je nach Sitzknochenbreite und Genitalbereich-Beschaffenheit individuell verstellbar.
„Bikefitting“ ist das Zauberwort
Allerdings – davon ist Kim Tofaute überzeugt – ist der richtige Sattel noch lange nicht die Gewähr für das Ausmerzen von Sitzproblematik. „Das ganze System muss aufeinander abgestimmt werden. Denn wenn ich irgendwo Druck auf Knochen wegnehme, entsteht unweigerlich neuer Druck an anderer Stelle. Es ist ein komplexes System – bei jedem Radfahrer individuell meist total unterschiedlich“, sagt Tofaute.

„Bikefitting“ ist daher das Zauberwort, das in den vergangenen Jahren immer mehr Gewicht in der Radszene erhalten hat. Die individuelle Abstimmung von Sportler-Anatomie mit Rahmengröße und – geometrie, Sattel, Kurbellänge, Vorbau, Schuhen, Schuhplatten und Radhose.
Eine komplexe Sache, die auch bei Karla Sommer zum Erfolg geführt hat. „Seit ich das alles einmal ganz genau habe untersuchen und für mich persönlich habe einstellen lassen, sind meine Sitzprobleme tatsächlich verschwunden.“
Text: Olaf Jansen. Nachdruck, auch in Auszügen, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers. Bilder: © siehe Bildtext
Weiteres Reisethema auf Outdoor Elements: Per Rennrad durch die üppigen Tropen Thailands.