
Wir stehen am Einstieg des Klettersteigs Pinut und blicken nach oben. „Ganz ehrlich, das sieht steiler aus als auf den Bildern!“, sagt Lisa und nestelt nervös an ihrem Klettergurt. Martina grinst: „Keine Sorge, wir haben das Ding gleich im Griff!“ Ich nicke: „Das hier ist nicht nur ein Klettersteig, es ist eine Zeitreise.“
Auf den Spuren der Alpwirtschaft – und der eigenen Grenzen
Der Klettersteig Pinut bei Flims Laax ist kein gewöhnlicher Klettersteig. Er ist der älteste der Schweiz – ein Relikt aus einer Zeit, als er nicht für Adrenalinhungrige, sondern für den harten Alltag der Alpwirtschaft gebaut wurde. Schon 1739 wurde der mit Kletterhilfen versehene Hirtenweg erstmals schriftlich erwähnt. 1907 wurde er offiziell als Klettersteig eröffnet und 2007 umfassend saniert. Wer ihn heute begeht, begibt sich auf eine senkrechte Reise in die Vergangenheit – und überwindet dabei nicht nur schwindelerregende Höhen, sondern auch sich selbst.

Schon der erste Blick nach oben lässt unseren Puls schneller schlagen. Der Klettersteig Pinut windet sich an den fast senkrechten Felswänden des Flimsersteins empor. Dieser gewaltige Felsriegel ist das Erbe des Flimser Bergsturzes – des größten alpinen Bergsturzes der Schweizer Geschichte, der sich vor rund 10.000 Jahren ereignete. Die gigantischen Felsmassen, die damals ins Tal stürzten, formten nicht nur die Landschaft mit ihren türkisblauen Bergseen, sondern auch eine Herausforderung, die es in sich hat.
Im Gegensatz zu modernen Klettersteigen, bei denen Stahlseile und künstliche Tritte einer eigens angelegten Route durch die Felswand folgen, verläuft der Pinut – heute gut gesichert – über den ursprünglichen Weg der Hirten und Bauern, die ihn einst für den schnellen und direkten Aufstieg zur Alp auf dem Flimserstein und für den Materialtransport nutzten.

Die ersten Schritte – und die erste Überwindung
Der Einstieg in Fidaz ist noch gemütlich, doch bald führt der Weg in die Felsen. Insgesamt sind 870 Höhenmeter zu bewältigen – inklusive Zustieg. Gesicherte Eisentreppen und in den Fels gehauene Stufen wechseln sich mit Drahtseilen ab. Die Feuchtigkeit der Nacht liegt noch auf den Griffen, als wir uns Schritt für Schritt nach oben tasten. Jeder Blick zurück enthüllt ein immer spektakuläreres Panorama: das Hochplateau von Flims, die dichten Wälder, der türkis schimmernde Caumasee – und tief unten die Straßen und Häsuer, die plötzlich winzig klein erscheinen. Lisa holt tief Luft. „Okay, nicht nach unten schauen. Einfach weitergehen.“ Ich lache: „Und trotzdem tust du es!“ Tatsächlich können wir uns dem Reiz des Ausblicks nicht entziehen – es ist einfach zu schön, zu einzigartig.

Entlang der vertikalen Felswand und über steile Leitern
Eines der Highlights ist der Durchstieg durch einen natürlichen Felsspalt. Plötzlich umgibt uns absolute Stille. Kurz verdunkelt der Fels das Sonnenlicht, während das metallene Klicken der Karabiner die einzige Geräuschkulisse ist. Eine der steilsten Passagen liegt nun hinter uns: eine fast senkrechte Leiter, die sich am glatten Fels entlangzieht.
„Warum tue ich mir das an?“ keucht Lisa. Martina grinst: „Weil du danach weißt, dass du es kannst!“ Schritt für Schritt überwinden wir die steile Passage, bis wir schließlich wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Oben angekommen – ein Gefühl der Freiheit
Nach gut zweistündigem Aufstieg erreichen wir das Hochplateau des Flimsersteins auf rund 1900 Metern Höhe. Hier oben eröffnet sich eine Szenerie, die das Adrenalin der letzten Meter mit einem Schlag in Ehrfurcht verwandelt. Ich atme tief ein und lasse den Blick über die Gipfel der Bündner Berge schweifen. Lisa klatscht Martina ab: „Und? Heldinnen?“ – „Definitiv!“, lacht sie.
Der Weg führt weiter über sanfte Wiesen, auf denen die Alpwirtschaft noch heute eine wichtige Rolle spielt. Kühe weiden friedlich, in der Ferne erheben sich die wilden Glarner Hochalpen. Wer mag, kann noch weiter zum Segnesboden wandern, wo die Tektonikarena Sardona – ein UNESCO-Welterbe – faszinierende Einblicke in die geologische Geschichte der Alpen bietet.

Wir wählen den wesentlich kürzeren Abstieg über den Alpweg Scala Mola. Auch dieser Weg am Flimserstein hat historische Bedeutung und spielt noch heute eine wichtige Rolle: Jeden Herbst ziehen die Kühe von der Alp Flimserstein über den steilen Felsweg ins Tal – er wurde 1645 in den Fels des Flimsersteins gehauen und ist bis heute fast unverändert erhalten. Ein spektakulärer Alpabzug, der jedes Jahr Hunderte von Zuschauern anlockt.

Durch das wildromantische Hochtal Bargis erreichen wir schließlich wieder unseren Ausgangspunkt in Fidaz.
Ein Erlebnis mit Geschichte – und mit einzigartigem Flair
Diese Rundtour über den Klettersteig Pinut ist mehr als ein Abenteuer. Sie ist ein Denkmal der alpinen Kultur und eine Hommage an die Menschen, die einst unter härtesten Bedingungen in diesen Bergen lebten.

Heute bietet der Pinut den perfekten Mix aus Nervenkitzel und Naturerlebnis – und das Beste: Er ist auch für sportliche Familien mit Kindern ab zwölf Jahren geeignet.
Text: HPR Team // Bilder: © siehe Bildtext
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