
Wer ist eigentlich die ewige Nummer zwei in Deutschland? Das ZDF? Vizekusen war es mal. Aber ganz sicher ist es der Hochwanner. Zumindest wenn es um den zweithöchsten Berg Deutschlands geht. Ein einsamer Felskoloss, der neben der beliebten Zugspitze ein Schattendasein fristet und nur von der Tiroler Seite aus bestiegen werden kann. Eine Entdeckungsreise.

Der Hochwanner ist ein echter Hidden Champion
„Watzmann, ist doch klar!“, ruft meine Freundin Lisa selbstbewusst, als ich sie nach dem zweithöchsten Berg Deutschlands frage. Zonk! Der Titel „Zweithöchster Zacken der Republik“ geht nicht nach Berchtesgaden, sondern ins Wettersteinmassiv unweit von Garmisch-Partenkirchen. An den 2.744 Meter hohen unbekannten Hochwanner.
Zugegeben, die Sache ist nicht ganz eindeutig, denn es existiert keine allgemeingültige Definition. Die internationale Vereinigung von Alpinistenverbänden, UIAA, zählt einen Berg bereits ab einer Schartenhöhe von 30 Metern als eigenständig. Viele Alpinisten und Geologen legen hier aber deutlich strengere Richtlinien an. Sie geben eine Mindestschartenhöhe von 100 Metern vor und zählen daher nur die Hauptgipfel ganzer Bergmassive als eigenständige Gipfel. Somit werden die Mittlere Wetterspitze (2.750 Meter) und der Schneefernerkopf (2.874 Meter) zu Nebengipfeln der Zugspitze degradiert.

Der Hochwanner – Deutschlands unterschätzter Zweithöchster nach der Zugspitze
Deutschlands Vize fristet neben den Berühmtheiten des Wettersteingebirges ein regelrechtes Schattendasein. Kaum jemand, der schon mal seinen Namen gehört, geschweige denn ihn bestiegen hat. Das wollen wir ändern! Wir starten in Weidach im Leutaschtal in der Region Seefeld und rollen auf unseren E-Bikes immer entlang der Leutascher Ache Richtung Westen. Die rund 1.700 Höhenmeter auf den Hochwanner lassen sich zwar auch an einem (sehr sportlichen) Tag bewältigen, wir haben uns aber für die entspannte Zwei-Tages-Variante mit Übernachtung auf der Rotmoosalm (2.030 Meter) entschieden.

Auf dem Bike Trail Tirol erreichen wir das romantische Gaistal, das im Norden das Wettersteingebirge von der Mieminger Kette im Süden trennt und zurecht „Almenparadies“ genannt wird. Ganze zwölf Almen, Hochalmen und Schutzhütten erreicht man von Leutasch aus innerhalb eines Tagesmarschs. Sanft ansteigend führt der Weg durch lichte Wälder, entlang des rauschenden Flusses und über blühende Wiesen. Links thront die Hohe Munde, rechts ragen die schroffen Wände des Wettersteins in den Himmel. Auf Höhe der Gaistalalm verabschieden wir uns unter Kuhglocken-Gebimmel von der Leutascher Ache und zweigen auf die steilen Forstweg-Serpentinen Richtung Rotmoosalm ab.

Übernachtung auf der Rotmoosalm: Ein Hüttenabend über dem Tal
Die Motoren unserer E-Bikes surren leise vor sich hin und schieben uns Kehre für Kehre in die Höhe. So erreichen wir relativ entspannt die 2.030 Meter hoch gelegene Rotmoosalm, eine kleine Almhütte, die selbst Bayerns Märchenkönig Ludwig II. nicht besser hätte in die Landschaft platzieren können. Wie Uli Hoeneß über dem Tegernsee thront die urige Holzhütte 700 Meter über dem Gaistal und lädt mit ihrer Südterrasse zum gemütlichen Weißbier-Ausklang ein. Viel ist am Abend hier oben nicht mehr los. Die Tagestouristen stehen schon lange wieder im Stau nach Hause, während wir die beruhigende Stimmung der abendlichen Licht-Schatten-Spiele über dem Gaistal aufsaugen.
Zum Abendessen serviert uns Hüttenwirtin Evi Neuner ihre selbstgemachten Speckknödel in der Suppe. Zusammen mit ihrem Mann Florian sorgt sie nicht nur für das leibliche Wohl ihrer Gäste, sondern kümmert sich rund 20 Pferde und 300 Rinder, die weitläufig verteilt an den Hängen grasen. Auch Schwiegervater Sigmund hilft noch regelmäßig mit. Er hat schon die alte Rotmoosalm bewirtschaftet, die ein paar hundert Meter weiter unten in einem Talkessel stand, 2009 aber von einer Lawine zerstört wurde. Auf der Terrasse vor der Hütte kehrt langsam Ruhe ein. Ich frage Evi nach der Hüttengitarre und spiele Lisa noch ein paar Schmachtfetzen im Mondschein. Dann verkriechen wir uns ins Schlaflager, das wir in dieser stimmungsvollen Nacht leider nicht für uns alleine haben.

Der Aufstieg beginnt: Schweißtreibende Höhenmeter Richtung Gipfel
Am nächsten Morgen reißt uns der Wecker aus der warmen Wohlfühlzone in unseren Schlafsäcken. Von der Holzterrasse aus kann man die Sonne neben der schroffen Schüsselkarspitze aufgehen sehen. Den besten Blick auf das Spektakel ergattert man aber vom Schönbergrücken, der ein paar Minuten oberhalb der Hütte liegt und von Kühen und Pferden als Weide genutzt wird. Nach dem Frühstück rollen wir erst mal bergab. An einem kleinen Schuppen unweit der Überreste der alten Rotmoosalm lassen wir die Bikes stehen. Von nun an geht es zu Fuß weiter. Rund 850 Höhenmeter liegen ab hier noch vor uns, die haben es aber in sich. Ein Wegweiser schickt uns in Richtung Steinernes Hüttl und Predigtstein. Den Hochwanner sucht man auf den gelben Schildern vergeblich, auch in den Landkarten ist der Aufstieg allenfalls als graugepunktet Linie eingezeichnet. Die Begründung ist einfach: Wäre es ein offizieller Weg, müsste für den Unterhalt aufgekommen werden und das macht bei dem rutschigen Schotterhaufen eine Sisyphusarbeit.
Die Erstbegehung gelang im Sommer 1871 – wie könnte es anders sein – Herrmann von Barth, jenem legendären Bergsteiger, der in einem Sommer 88 Gipfel im Alleingang bestieg und als Erschließer des Karwendel- und Wettersteingebirges gilt.

Trittsicherheit gefragt: Der anspruchsvolle Südsteig zum Hochwanner
Wir folgen dem schmalen Weg über steile Wiesenhänge und gewinnen schnell an Höhe. Bald schon können wir im Dunst des Tages die Stubaier und Zillertaler Alpen mit ihren von Schnee und Eis bedeckten Gipfeln erkennen. Auf dem Südsteig lassen wir den Predigtstein links liegen und queren hinüber bis zum Mitterjöchl. Ab hier verlassen wir das offizielle Wegenetz und folgen einer ausgetretenen Pfadspur über einen grünen Grasrücken in Richtung Felswände. Der weitere Weg ist nichts für Anfänger. Lange Schuttreisen müssen teils weglos überquert werden und verlangen Trittsicherheit, Schwindelfreiheit und gute Orientierung.
Wer ein GPS-Gerät dabei hat, ist hier klar im Vorteil. Festes Gestein ist eine Seltenheit und bald schon sind uns die Wanderstöcke eine große Hilfe. Durch eine brüchige Rinne überwinden wir eine kleine Steilstufe. Hier müssen wir kurz unsere Hände zur Hilfe nehmen, was der Schwierigkeitsskala der UIAA aber nur eine läppische „I“ entlockt. Dann wartet nur noch eine Fleißaufgabe: In der hitzigen Südflanke des Hochwanners gilt das Motto „Zwei Schritte vor, einer zurück“. Doch schon jetzt bietet das Panorama einen eindrücklichen Vorgeschmack auf das, was uns bald geboten wird und entschädigt uns für die Mühen. Eine Dreiviertelstunde später ist das Gipfelkreuz endlich in greifbarer Nähe. Nach ein paar letzten Stufen und engen Kehren im Geröll stehen wir auf dem zweithöchsten Gipfel Deutschlands.

Hochwanner vs. Zugspitze: Ein Berg der Stille gegen den Massentourismus
Unsere Blicke schweifen über die felsigen Bergketten. Nach Süden zur Mieminger Kette, nach Westen zur Ehrwalder Sonnenspitze, nach Norden zum berühmten Jubiläumsgrat, der dem Wettersteingebirge seine markante Form verleiht. Nur etwa sechs Kilometer Luftlinie trennen uns von Deutschlands Königin Zugspitze. Dabei könnten die Gegensätze nicht größer sein. Zwei Seilbahnen und eine Zahnradbahn schaufeln täglich bis zu 8.000 Besucher auf Deutschlands höchsten Touri-Magneten.
Wir sitzen zu zweit neben dem einsamen Gipfelkreuz, das exakt die deutsch-österreichische Grenze zwischen Garmisch-Partenkirchen und Leutasch markiert. Wohlwissend, dass sich auf dem Zugspitzplatt mit seinen Miniatur-Bauten gerade Hunderte an Bergtouristen auf den Biertischen am Sonnalpin Currywurst mit Pommes zu Leibe führen oder sich in Sneakers auf dem Weg zum engen Zugspitzgipfel auf die Füße trampeln und sich nicht selten sogar in Gefahr begeben. Wir kauen lieber auf unserem Käsebrot herum und genießen die Stille.
Dramatische Geschichte: Neun Tage in der Nordwand gefangen
Wer ein Stück auf dem Teufelsgrat – so wird der Grenzkamm in der Kletterszene genannt – weitergeht, wird mit einem, nur für Schwindelfreie zu empfehlender Blick ins tief unten liegende Reintal belohnt. Von hier oben lässt sich der längste Anstieg auf die Zugspitze, über die Reintalangerhütte und die Knorrhütte verfolgen.
Ein Blick in die Geschichtsbücher offenbart, was für ein Drama sich im September 1937 in der 1.400 Meter hohen Nordwand des Hochwanners abgespielt hat. Die beiden Münchner Georg Baumgartner und Erwin Vuzem befinden sich im Aufstieg durch die Nordwand und geraten unverhofft in einen Schneesturm. Sie entschließen sich 400 Meter unterhalb des Gipfels zu biwakieren. Beim Sichern des Schlafplatzes stürzt Vuzem in die Tiefe, wird zum Glück von den Schneemassen gebremst, verliert aber seine Schuhe. Nur mit Wollsocken an den Füßen klettert er am nächsten Morgen durch den Schnee hinauf zum Biwakplatz, bis ihn seine Kräfte verlassen. Sein Partner ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Was dann folgt, fällt in die Kategorie Wunder: Ganze neun Tage hält der 17-jährige Teenager in der Hochwanner-Nordwand durch, ausgehungert und mit Erfrierungen gezeichnet. Dann wird er vom Bergrettungspionier Wiggerl Gramminger und seinen Begleitern gefunden. Sie bringen ihn sicher ins Tal. Er verliert zwar sämtliche Zehen, ein Jahr später klettert er aber wieder.
Der Abstieg: Vom Hochgebirge zurück ins Tal – und zur verdienten Einkehr
Mit dieser Geschichte im Kopf packen wir unsere Sachen zusammen und machen uns vorsichtig auf den Abstieg. Jetzt ist wieder volle Konzentration auf den rutschigen Schotterhalden gefragt, denn wie sagte Bergsteigerlegende Hans Kammerlander einmal so treffend: „Ein Gipfel gehört dir erst, wenn du wieder unten bist – denn vorher gehörst du ihm“. Als wir zurück beim Fahrraddepot angekommen sind, sind wir froh, dass wir uns für die Bike-Variante entschieden haben und nun gemütlich den Rest des Weges hinunterrollen können. Auf der Gaistalalm kehren wir ein und stoßen an. Auf Deutschlands Nummer zwei.

Text: HPR / Max-Marian Boyzanovic, Fotos: © Region Seefeld / StefanSchuetz.com
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