
Wer schon immer mal einen Dreitausender bezwingen wollte, der kann sich rund um Livigno relativ einfach mit alpinen Lorbeeren schmücken. Den Gipfelerfolg bekommt man hier oben in den Lombardischen Alpen fast geschenkt. Den Liter Diesel übrigens auch.

Livigno bietet Einsteigern ideale Bedingungen
Zu Hause könnten wir erzählen, wir hätte in den Lombardischen Alpen gewaltige Berge bezwungen. Vom Tal bis zum Gipfel aus eigener Kraft. Höher als Deutschlands Höchster, die Zugspitze (2.962 m). Wilde Gletscherlandschaften rechts und links. Die dünne Luft auf über 3.000 Meter Seehöhe. Beißende Kälte. Gewaltmärsche am Limit unserer Leistungsfähigkeit… so könnten wir es erzählen. Heldengeschichten für den nächsten Männerabend wären das! Aber haben wir das nötig? Und würden wir dem Erlebten und nicht zuletzt uns selbst damit gerecht werden? Zwar schießen die Gipfel hier, im nördlichsten Zipfel der Lombardei, mächtig weit in die Höhe, aber schwierig zu besteigen sind sie deshalb noch lange nicht.
An den Bergen des zollfreien Hochtals von Livigno (1.816 m) muss man kein überdurchschnittlich erfahrener Alpinist sein, um sich den Traum vom Dreitausender zu erfüllen. Typ ambitionierter Wanderer reicht. Denn hier führen markierte Wanderwege bis weit hinauf in die alpine Höhenstufe der Dreitausender. Oftmals lassen sich die Touren kraftsparend mit dem E-Mountainbike verkürzen. Klettererfahrung braucht man keine. Gletscher müssen nie gequert, sondern nur bestaunt werden. Denn die höchsten Berge der Ostalpen – Ortler (3.905 m), Piz Palü (3.901 m), Piz Bernina (4.049 m) – stellen ihre eisigen Kunstwerke hier gerne zur Schau.

Dolce Vita und Outdoorsport im Herzen der Alpen
Livigno ist ein Traum für wilde Hunde, für Shopping Queens und alle Italo-Fans mit Salzwasser-Allergie. Im Sommer reichhaltiges Mountainbike-Revier, im Winter Freeride-Hotspot und eines der wenigen Heliski-Gebiete in den Alpen. Livigno versprüht seinen ganz eigenen Charme – „Dolce Vita alpina“ könnte man es nennen: Aperol statt Pils, Pasta statt Brettljause, Designer-Klamotten statt Tracht, Urlaub bei Nonna statt im Fünf-Sterne-Tempel.
Warum Livigno heute so ist, wie es ist, hat etwas mit Napoleon, den hohen Bergen, ganz viel Schnee im Winter und Schmugglern zu tun. Aber das ist eine andere Geschichte…
Ein Dorf auf Gipfelniveau: zum Wandern, Mountainbiken und natürlich Skifahren
Apropos Schmuggeln: Ambitionierte Wanderer mit Dreitausender-Wunsch schmuggeln sich vom 1.816 Meter hoch gelegenen Livigno recht einfach über die magische Grenze. Hierzu ein Rechenspiel: 3.000 Meter minus 1.816 Meter ist gleich 1.184 Höhenmeter, die man von Downtown Livigno bis auf den niedrigsten Dreitausender bewältigen muss. Von Garmisch-Partenkirchen auf die Zugspitze ist es fast doppelt so weit – natürlich by fair means ohne Gondelbahn. Und selbst zu bekannten Gipfelkreuzen der Bayerischen Voralpen muss man häufig plus/minus einen Kilometer Vertikaldistanz zu Fuß bewältigen.
In den Livigno Alpen erleichtert die wunderbar wanderbare Topografie das Höherkommen ungemein. Dazu das weite, markierte Wegenetz, die Gletscher als Kulisse und manchmal auch der elektronische Rückenwind des E-Mountainbikes: Das sind die Zutaten der Livigno-Formel für dünne Luft oder „Meinen ersten Dreitausender“.
Geheimtipps vom Bergführer
Es sind wohlklingende Berge wie der Monte Vago (3.059 m), die mächtig Potenz wegen ihrer schieren Höhenangabe ausstrahlen. „Dreitausendneunundfünfzig Meter“ – krass! Aber doch schwächelt diese Zahl dann, wenn man sie in Relation zur Höhe des Ausgangspunktes setzt. Dieser befindet sich am Monte Vago nämlich an der Passhöhe Forcola di Livigno, ganz im Süden des Hochtals, nahe der Schweizer Grenze. Wer hier sein Auto parkt, tut dies auf sage und schreibe 2.315 Meter Seehöhe. Bleibt eine Höhendifferenz von mickrigen 744 Metern, die Wanderer manchmal sogar in deutschen Mittelgebirgen überwinden.
„Rund um Livigno gibt es eine Menge genialer Touren, aber der Monte Vago ist meine absolute Lieblingstour“, sagt der 70-jährige Bergführer Epi Bormolini, der ein wenig wie Obelix aussieht und dem jeder Interessierte unweigerlich irgendwann einmal in Livignos Fußgängerzone über den Weg läuft. „Ist man am Gipfel angekommen präsentieren sich die Alpen in ihrer ganzen Pracht als 360 Grad Panorama. Auf halber Wegstrecke wartet mit dem türkisfarbenen Lago Vago (2.687 m) ein perfekter Spot für eine kleine Pause“, schwärmt Epi, der seine Hausberge natürlich kennt wie kein Zweiter. Doch er mahnt auch zur Vorsicht, denn „obwohl sich an vielen Livigno-Dreitausendern ein markierter Wanderweg bis hinauf zum Gipfelkreuz schlängelt, gilt es doch die Tour mit der nötigen Ernsthaftigkeit und passender Ausrüstung anzugehen.“ Denn vor Wetterumschwüngen, kalten Temperaturen und rutschigen Schneefeldern – selbst im Hochsommer – schützen weder rot-weiße Wegmarkierungen, noch zusammengedampfte Aufstiegsmeter.

Livigno ist olympisch
Livigno ist zwar nicht ganz das höchste Dorf der Alpen, dafür ist es mit seinen knapp 7.000 Einwohnern aber auch weit weniger Heidi-und-Ziegenpeter-Kaff als viele andere Bergdörfer in dieser Höhenlage. Im Gegenteil: Heute pulsiert Livigno ganzjährig. Doch das war nicht immer so. Einst war „Little Tibet“ wegen seiner gottverlassenen Lage hoch in den lombardischen Alpen – zwischen den Eisriesen von Ortler und Bernina – bettelarm. Heute kommen auf jeden Einheimischen zwei Gästebetten. In der rustikalen Fußgängerzone laden Prada, Gucci, Dolce & Gabbana und 250 weitere Stores zum zollfreien Shoppen ein.
Zwei hochmoderne Liftanlagen locken im Sommer Mountainbiker und Wanderer, im Winter Skifahrer und Snowboarder. Und 2026 werden sogar die Freestyle-Wettbewerbe im Rahmen der Olympischen Winterspiele in Mailand und Cortina d’Ampezzo in Livigno ausgetragen.

Ein Gottesmann mit sehr irdischer Lebenseinstellung
Wer von Bormio über den Eira-Pass nach Livigno fährt, kommt in Trepalle vorbei. Das liegt nochmals 300 Meter höher als Livigno und gilt mit als höchstes Dorf Europas. An der Tankstelle im Bergdorf kostet der Liter Diesel aktuell unter 1,30 Euro, die Packung Zigaretten um die 3 Euro – wie überall im Gemeindegebiet von Livigno auch. Und doch erzählt Trepalle seine eigene, skurrile Geschichte. Eine Geschichte von Armut, Gottesfurcht und Import & Export.
Alessandro Parenti war ein Mann mit vielen Talenten. Von 1939 bis 1980 war „Don Sandro“ Dorfpfarrer von Trepalle. Hier oben, in der höchstgelegenen Pfarrei Europas, war das Leben eines der härtesten. Auf über 2.000 Metern Seehöhe musste man kreativ sein, um zu überleben. Also gingen die jungen Männer nachts zum Schmuggeln hinüber nach Bormio und ins Schweizer Engadin. Wurden sie erwischt, verteidigte sie der streitbare Pfarrer, der eine juristische Ausbildung hatte. Sein Argument: Die Grenzen seien menschengemacht, nicht von Gott gegeben – somit könne er als Pfarrer das Schmuggeln nicht verurteilen. Außerdem müssten die Dorfbewohner schmuggeln, weil sie so arm seien.
Wo selbst der liebe Gott nicht helfen konnte, half Don Sandro selbst: Kurz nach seiner Ankunft ließ der Gottesmann direkt an der Passstraße eine Zapfsäule installieren. Mit dem Spritverkauf finanzierte er Wasser und Licht für Trepalle. Die Kinder unterrichtete er selbst. Und nach Schulschluss und der Abendmesse machte er sich auf den einsamen Weg. Nicht in die Kneipe, sondern zum Schmuggeln.

Man muss nicht allzu weit um die Ecke denken, um Parallelen zwischen Alessandro Parenti und Don Camillo aus den Italo-Komödien der 50er und 60er Jahre zu erkennen. Der Autor von „Don Camillo und Beppone“, ein gewisser Giovannino Guareschi, verbrachte einige Sommer in Trepalle. Ob er zum Schmuggeln mitgenommen wurde, ist leider nicht überliefert. Übrigens: Die Tankstelle von Don Sandro gibt es heute noch, an der Straße zwischen Passo d’Eira und Passo di Foscagno. Und sie ist immer noch Eigentum der Pfarrei. Die Original-Zapfsäule kann man im Heimatmuseum MUS! unten in Livigno bestaunen.
Unterwegs auf alten Schmugglerpfaden
Auch Epi Bormolini besserte einst seinen Lebensunterhalt mit Schmuggeln auf. „Meine letzte Tour habe ich 1972 als 17-Jähriger gemacht“, erzählt er bei einer Tasse doppelten Espresso auf der Sonnenterrasse des Bivio, seiner Lieblingsbar im Zentrum Livignos. „Meist habe ich Kaffee geschmuggelt“, ergänzt er passend. Als gebürtiger Livignaschi ist er früh mit den Bergen in Berührung gekommen: „Als ich noch sehr jung war, hatte ich die Gelegenheit, Lodovico Cusini, den ersten Bergführer Livignos, kennenzulernen. Hin und wieder hat er mich auf seine Ausflüge in unsere Heimatberge mitgenommen. Ich erinnere mich an eine unserer ersten gemeinsamen Touren auf den Piz Paradisin (3.302 m). Für mich ein Schlüsselerlebnis. Fortan wollte auch ich Bergführer werden.“

Mit seinen 70 Jahren führt Epi noch immer Gäste auf seine Hausberge – nicht selten über alte Schmugglerpfade. Der 3.000er Schallmauer kann er allerdings wenig abgewinnen. Für ihn zeigt sich die Schönheit seiner Bergheimat nicht in einer Zahl, sondern in den kleinen Dingen am Wegesrand. Zum Beispiel in einer Pflanze, die nur in einem speziellen Gebiet wächst und die nicht selten eine Bedeutung für die lokale Küche hat. Oder in einem Stein, der sich von seiner Umgebung völlig unterscheidet. „Die Natur ist fantastisch! Ich wollte immer mehr darüber lernen und mein Wissen weitergeben“, philosophiert Epi und grinst unter seinem mächtigen Oberlippenschnauzer hervor. Man kann sich gut vorstellen, warum Epi ein gefragter Mann unter den Bergführen Livignos ist.

E-Bike & Hike: Elektrischer Rückenwind für den Gipfel
Es sind klingende Bergnamen wie Pizzo Filone (3.133 m) oder Monte Breva (3.104 m), die Livigno zur Top-Adresse für alle Dreitausender-Sammler machen.
Die Rundtour über den Pizzo Filone ist ein landschaftlicher Leckerbissen, die nur durch die Zuhilfenahme eines E-Bikes zur Genusstour wird. Direkt aus dem Ortszentrum von Livigno geht es zunächst auf einem asphaltierten Radweg am Bach entlang gen Süden, bevor man im Ortsteil Tresenda scharf links ins liebliche Valle delle Mine abbiegt und auf gutem Fahrweg hinauf bis auf 2.192 Meter zur Almwirtschaft Baitel del-Grasso degli Anelli pedaliert. Hier werden die Bikes geparkt. Die nächsten knapp 1.000 Höhenmeter müssen nun zu Fuß bewältigt werden, wobei der Auf- und Abstieg als Rundtour bewältig werden kann. Es sind weniger die gesparten Höhenmeter, als vielmehr die kraftschonend zurückgelegten Kilometer Horizontaldistanz, die den Pizzo Filone zur perfekten E-Bike & Hike-Tour machen.
Vom Bergsee zum Aperol
Etwas anders ist es auf der gegenüberliegenden Talseite am Monte Breva (3.104 m). Hier können versierte E-Biker ihre Leiber kraftsparend bis hinauf zum malerischen Lago del Monte (2.606 m) bugsieren. Es bleiben nur knapp 500 Wanderhöhenmeter zum schottrigen Gipfel, der wie ein Aussichtsbalkon vor dem allerhöchsten und gleichzeitig einzigen Viertausender der Ostalpen, dem Piz Bernina (4.049 m), logiert. Wer will, kühlt anschließend seine Füße im kristallklaren Bergsee. Und donnert dann – auf schwerem Sportgerät und über ruppiges Geläuf – ins Tal auf direktem Weg in die Aperol-Zone im Herzen Livignos.

Arrivederci Livigno – Tanken nicht vergessen!
In einem der Cafés sitzt dann sicher schon Epi Bormolini. Ob er auch schon mal ein E-Bike benutzt habe, um eine Bergtour zu verkürzen? „No!“ Eh klar, Signore Bormolini braucht kein E-Bike und sowieso keine dünne Luft auf Dreitausender-Bergen um im Mittelpunkt zu stehen. Der Mann hat andere Argumente: Einen potenten Schnauzer zum Beispiel, ein italienisches Bergführer-Emblem auf der Brust und natürlich seine heroischen Schmugglergeschichten.
Und doch packt viele Livigno-Urlauber so wie uns der Dreitausender-Stolz. Dann, wenn sie den Tank ihres Autos budgetschonend für die Heimfahrt gefüllt haben und kurvig durch den einspurigen Munt-la-Schera-Tunnel rollen. Und dann gleich im Kalender checken, wann der nächste Männerabend ist.

Text: HPR / Max-Marian Boyzanovic, Fotos: Hansi Heckmair
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